Die Hoffnungen waren vergebens: Russlands Präsident hat der Ukraine den Krieg erklärt. Russische Panzer rollen gen Westen. Es ist das Ende der europäischen Friedensordnung, wie wir sie kennen. Doch die Ukrainer wollen um ihre Freiheit kämpfen. Wie weit ist Putin bereit zu gehen?
Es ist kurz vor Sonnenaufgang gegen vier Uhr, als ein lauter Knall die Stadt erschüttert. Eine Bombe ist nahe des Kiewer Flughafens Borispol eingeschlagen. Bis ins Zentrum ist die Detonation zu hören. Sie reißt die Bewohner der Millionenmetropole aus den Betten. Ohnehin haben nur wenige in den Schlaf finden können. Viele haben geahnt, was kommt: ein neuer, großer Krieg. In der Ukraine. Mitten in Europa.
In den folgenden Stunden passiert, was viele bis zuletzt nicht glauben wollten: Russlands Präsident Wladimir Putin hat eine umfassende Invasion der Ukraine gestartet. Bomben fallen auf Städte im Süden und Osten des Landes. Panzer rollen in die Ostukraine, auch aus Belarus. In Kiew heulen die Sirenen. Auf der Stadtautobahn staut sich früh am Morgen, viel früher als üblich, der Verkehr. Tausende flüchten aus der Metropole. Andere suchen in Kellern Schutz.
Putin hat es getan – die mutmaßlich größte Militärattacke in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg begonnen. Sanktionen und fieberhafte Diplomatie, nichts hat ihn davon abgehalten. Es ist die endgültige Zäsur in der europäischen Friedensordnung nach dem Ende des Kalten Krieges. Noch während der UN-Sicherheitsrat tagte, kündigte Putin in der Nacht mit blassem, grimmigem Gesicht eine „Spezialoperation“ in der Ukraine an, um einen angeblichen Genozid an Russen zu verhindern.
„Wir streben deshalb die Entmilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine an und werden diejenigen vor Gericht bringen, die sich der mannigfachen, blutigen Verbrechen an der friedlichen Bevölkerung schuldig gemacht haben, darunter auch an den Bürgern der Russischen Föderation.“ Es klang nach Rache, nach unbändiger Wut und nach weiteren, vielleicht vielen Opfern eines Krieges, der schon 13 000 Ukrainer das Leben gekostet hat.
Menschen wie Anton Sidorow, der vorige Woche bei einem russischen Granatenangriff in der Ostukraine starb.
Es ist der Montag vor dem russischen Einmarsch. Ein Nebel aus Weihrauch zieht durch die Kapelle. Ikonen glänzen im flackernden Kerzenlicht. In einem offenen, mit weißer Seide ausgekleideten Sarg ist der Leichnam Sidorows aufgebahrt. Er trägt eine Camouflage-Uniform, auf seiner Brust liegt der Militärausweis. Der Vater von drei Töchtern wurde 35 Jahre alt.
In der Kirche der Heiligen Dreifaltigkeit neben dem Kiewer Olympiastadion nehmen Familie und Kameraden Abschied von dem Mann, den sie einen „Patrioten“ nennen. Und einen Helden, der im Kampf für die Heimat sein Leben gab. Frauen mit schwarzen Kopftüchern bekreuzigen sich vor dem Sarg. Ihre Augen sind von Tränen gerötet. Ein Chor singt eine letzte Fürbitte. Dann läuten Kirchenglocken. Soldaten in Paradeuniform schultern den Sarg und tragen ihn hinaus, ins Licht der Mittagssonne.
„Anton war ein großer Mann“, sagt Witali Dowhan, 52. Auch Dowhan ist Soldat, in der Hand hält er einen Strauß roter Nelken. Gemeinsam harrte er mit Hauptmann Sidorow in den Schützengräben des Donbass aus. Seine Botschaft an den „Feind“: „Wir werden unser Land weiter beschützen. Wir haben keine Angst.“ Dowhan hat natürlich gehört, was Putin kurz zuvor fernsehöffentlich gesagt hatte: Er hat dem Nachbarland das Recht auf eine eigenständige Existenz abgesprochen und stattdessen die ostukrainischen Separatistengebiete Donezk und Luhansk als unabhängige Republiken anerkannt. Das Minsker Abkommen, in dem Deutsche und Franzosen mühseligst einen Waffenstillstand ausgehandelt hatten, wurde damit obsolet.
Die Ukrainer, lange Zeit ihrer eigenen Identität gar nicht so gewiss, lässt Putins Vorgehen noch enger zusammenrücken. Als in Kiew der Sarg Sidorows in einem Jeep vor dem Verteidigungsministerium vorfährt, salutieren Hunderte Soldaten. Mächtige hellblau-gelbe Banner flattern im Wind. Das Sturmgewehr fest umgriffen, bewachen Soldaten das Ministerium. Ein Bild des Offiziers wird später die Mauer des Michaelsklosters schmücken. Dort erinnern Tausende Porträts an die „gefallenen Verteidiger der Ukraine im russisch-ukrainischen Krieg“. Es ist eine Wallfahrtsstätte der Trauer, an der die Ukrainer der Menschen gedenken, die seit 2014 im Konflikt mit Russland gestorben sind. Mehr als eine Million Menschen verloren ihre Heimat.
Ich werde aber niemals zur Waffe greifen, schließlich bin ich ein Mann Gottes
Priester Oleksandr Sorokin
Nun droht vielleicht ein noch größeres Blutvergießen. Priester Oleksandr Sorokin, 43, blinzelt nach dem Trauergottesdienst in den frühlingshaften Himmel. Viele Menschen haben in den vergangenen Tagen Trost bei ihm gesucht. Hilft jetzt nur noch beten? „Natürlich sind wir besorgt. Ich werde aber niemals zur Waffe greifen, schließlich bin ich ein Mann Gottes“, sagt Sorokin und streicht über das goldene Kreuz auf seiner Brust. Der Geistliche zog kurz nach der russischen Annexion der Krim aus der Hafenstadt Cherson nach Kiew. Hier lernte er den gläubigen Hauptmann Sidorow kennen. Dieser wurde sogar landesweit bekannt, nachdem er in einer TV-Show traurige Soldatenlieder geschmettert und das Publikum damit zu Tränen gerührt hatte.
Sorokin, der Priester, muss in diesen Tagen viel Trost spenden. Die Ungewissheit belaste die Menschen. „Mit Gottes Hilfe können wir das meistern“, glaubt er. Doch selbst ihm ist klar, dass Gottvertrauen allein nicht reicht. „Die Welt darf uns nicht im Stich lassen“, appelliert er. „Unsere Verbündeten müssen uns beistehen, sonst können wir uns nicht wehren.“
Im Westen Kiews, im Viertel Schuljawska, macht sich Sergiy Welichanski, 50, bereit für den Kampf. Er hat eine Camouflage-Uniform angelegt. Der Business-Coach sieht müde aus, er hat kaum geschlafen. Er gehört zu einer Freiwilligenbrigade, die Kiew gemeinsam mit der Armee verteidigen soll. Am Morgen nach der Invasion wird er einberufen. Er hat eine Telegram-Nachricht erhalten von seinen Kommandeuren. Nun passiert, worauf er sich die vergangenen Monate vorbereitet hat. Er wird eine Waffe bekommen, um sein Viertel zu verteidigen. „Ich werde nicht zulassen, dass Russen ihre Stiefel auf die Straßen meiner Heimat setzen. Wir werden ihnen in ihre Ärsche treten.“
Die nahe gelegene Metrostation hieß früher „Bolschewik“ und war ein kommunistisches Monument. Ein Mosaik aus Kacheln zeigt noch immer einen Arbeiter, der ein Atom in der Hand hält. Doch alle russischen Inschriften wurden herausgeschlagen. Die alten Parolen „Arbeit“, „Brüderlichkeit“ und „Frieden“ sind nur mehr auf Ukrainisch zu sehen. Ein Gesetz schreibt Ukrainisch als quasi einzige akzeptierte Sprache im öffentlichen Raum und im Schulunterricht fest – bei Verstößen droht ein Bußgeld.
Die Bürgerwehren, erzählt Welichanski, bekamen zuletzt großen Zulauf. Sie sollen jetzt, im Kriegsfall, vor allem wichtige strategische Punkte verteidigen. Erst im Januar wurde ein Gesetz verabschiedet, das eine Freiwilligenarmee mit einer Stärke von 10 000 Männern und Frauen vorsieht. Oberster Kommandeur ist General Yuri Galuschkin, der 2014 in der Schlacht um den Flughafen von Donezk gegen die Separatisten kämpfte.
Wenn ich kämpfe, bleibt es vielleicht meinem 23-jährigen Sohn erspart. Er hat doch noch sein ganzes Leben vor sich
Sergiy Welichanski, Kämpfer der Territorialen Verteidigung
Welichanski hat sich ein Armeemesser, eine Uniform und einen Magazingürtel zugelegt. Rund 700 Dollar hat er in seine Ausrüstung investiert. Dass Deutschland Waffenlieferungen an die Ukraine ablehnt und nur gebrauchte Helme anbietet, regt ihn auf. „Das ist ja wohl ein schlechter Witz“, poltert er. Bei der Fußball-EM 2012 in Polen und der Ukraine arbeitete er als Talkshow-Host.
In den vergangenen Wochen hat er auf einer Schießbahn das Feuern mit der Kalaschnikow trainiert. Jeden Samstag mit Hunderten anderen Freiwilligen, darunter Anwälte, Architekten und Marketingexperten, in einem verlassenen Fabrikgelände den Guerillakrieg geübt. Die Kommunikation läuft über geschlossene Telegram-Kanäle. Die Stimmung in der Truppe fasst er so zusammen: „Bei den Maidan-Protesten 2014 waren wir bereit, für unser Land zu kämpfen. 2022 sind wir bereit, für unser Land zu sterben.“ Seine Freundin schickte er vorsichtshalber in einen langen Urlaub nach Sri Lanka. Dass er sich für den Dienst an der Waffe meldete, hat auch einen persönlichen Grund: „Wenn ich kämpfe, bleibt es vielleicht meinem 23-jährigen Sohn erspart. Er hat doch noch sein ganzes Leben vor sich.“
Kiew, das ist jetzt eine Metropole im Kriegszustand. Wo Anfang der Woche die Bars noch voll, von Panik nichts zu spüren war – am Donnerstagmorgen nach Putins Angriff stehen Menschen Schlange an Geldautomaten und Tankstellen. Am Mittwochabend schon verlassen die letzten Flüge die Stadt; Gerüchte machen die Runde, dass der Flugverkehr bald eingestellt werden könnte. In der Metro ist erstmals etwas von der Anspannung zu spüren. Niemand sagt auch nur ein Wort. Stattdessen starren die Passagiere auf ihre Smartphones und versinken in einer virtuellen Welt zwischen Panik und Pop: Der finstere Putin. Ein glühender Atompilz. Schmink-Tutorial von der Beauty-Influencerin.
Am Maidan-Platz treffen wir den Reservisten Anton Goloborodko. Vor acht Jahren, im Februar 2014, erlebte Kiew hier den blutigsten Tag seines Aufstandes gegen die alten Sowjetstrukturen. Der von Putin gestützte Präsident Wiktor Janukowitsch jagte Spezialeinheiten auf die Protestler. Mehr als hundert starben, jedes Jahr, wird der „Himmlischen Hundert“ gedacht. Goloborodko kommandiert eine Freiwilligen-Brigade. Vor fünf Jahren kämpfte er im Donbass, und eigentlich will er nicht zurück in den Krieg. Doch kneifen werde er nicht, er sei ja kein Feigling. Er spricht aus, was viele seiner Landsleute über Putin denken: „Der Mann ist verrückt – ihm ist alles zuzutrauen.“
Am nächsten Morgen wartet Alina Michailowa, eine Kiewer Stadträtin, auf einen Bus, der sie mit anderen Reservisten nach Awdijiwka bringt. Die Stadt liegt 18 Kilometer von Donezk entfernt, direkt an der Front. Seit Jahren tobt hier ein blutiger Stellungskrieg. In der Gegend starb auch Sidorow, der Hauptmann. Wie eine Kämpferin sieht Michailowa mit ihren langen schwarzen Haaren und dem gestylten Äußeren nicht aus. Bei der Sicherheitskonferenz in München hatte sie noch mehr Unterstützung für ihre Heimat gefordert – auch Waffen. Doch viele hätten nur zögerlich reagiert, klagt sie. Die 27-Jährige freut sich, ihren Ehemann an der Front zu sehen. Der ist eigentlich Maler und hört auf den Kampfnamen „Da Vinci“. Er kämpft als Kommandeur der ultranationalistischen Miliz „Prawyj Sektor“ (Rechter Sektor) gegen die Separatisten.
Nun will Michailowa wie schon in den Jahren zuvor als Sanitäterin Verwundete versorgen. „Ich habe keine Angst“, sagt sie trotzig. „Ich würde niemals meine Brüder und Schwestern alleinlassen.“ Dann verschwindet ihr Bus im Stadtverkehr, auf der Fernstraße 03 Richtung Osten, in den Sonnenaufgang. In den Krieg.