,

Die Zukunft des Fußballs

Die Zukunft des Fußballs zwischen Kommerz, Korruption und Krieg – Oligarchen, Scheichs und Traditionalisten: Wie geht es mit der größten Sportart der Welt weiter? Wer profitiert? Und was bleibt im Milliarden-Geschäft auf der Strecke? Eine Analyse.

SO SIEHT ES ALSO AUS, WENN EIN Fußballklub im Koma liegt. Der Fanshop ist geschlossen, im Vereinshotel nebenan brennt kaum ein Licht. Der Stadtrivale ist zum Derby angereist, doch an der Stamford Bridge sind viele Ränge leer. Die Auswärtsfans genießen die Schadenfreude und grölen in die Londoner Nacht: „Da ist ja keiner da!“

Chelsea verliert an diesem Abend im April gegen den FC Arsenal 4:2. Wieder dürfen nur Dauerkartenbesitzer ins Stadion, Tagestickets können nicht verkauft werden. Seit dem Angriff auf die Ukraine ist Klubeigentümer Roman Abramowitsch wegen seiner Nähe zum Putin-Regime geächtet. Die Besitztümer des Oligarchen sind eingefroren, und der FC Chelski, Stolz von Londongrad, ist nur noch eingeschränkt geschäftsfähig. Der englisch-russische Patient wurde in einen künstlichen Schlaf versetzt, doch die überlebenswichtigen Organe sind intakt.

Und so ist auch an diesem Abend zu spüren, was aus dem Klub geworden ist: ein Symbol für die Macht und Ohnmacht im Fußball. Denn kaum war der früher gern gesehene Tycoon von der Insel verbannt, stellte die britische Regierung klar: Abramowitschs Verein dürfe natürlich weiterspielen.

Der Klub sei ein wichtiges „kulturelles Asset“, das es zu schützen gelte. Die (Schein-)Heiligkeit der Premier League – und des Fußballs insgesamt – darf keinesfalls befleckt werden: Auch das ist die Botschaft dieses Dramas. Und darum wird zügig der Verkauf des aktuellen Champions-League-Gewinners abgewickelt. Bis zu 4,5 Milliarden Euro werden politisch weniger bedenkliche Investoren bezahlen. Damit endet die Oligarchen-Ära. Und dann wäre ja alles wieder in Ordnung. Oder etwa nicht?

Corona, Krieg und Klimakrise verändern die Welt und die globale Wirtschaft rasant. Unternehmen passen sich an, verpflichten sich zu nachhaltigem, sozialem und ethischem Wirtschaften. Und der Fußball? Das alte Mantra vom „unpolitischen Sport“ wirkt in diesen Zeiten umso absurder. Steht also auch die populärste Sportart der Welt vor einer Zeitenwende – und wie könnte diese aussehen? In der Spitze kennt der Fußball – trotz Pandemie – nur Wachstum, weltweit nimmt das Interesse zu. Für Spieler, Investoren, Funktionäre und Medien bleibt die Jagd nach dem Ball lukrativ und wertvoll. Nur was genau macht den Wert des Fußballs aus?

Im Sport spiegelt sich die Gesellschaft – und umgekehrt. Ängste, Aktivismus und Individualismus prägen unsere Zeit. Gemeinschaft zersplittert, Mainstream gilt als Makel, lieber sucht man „eigene Wahrheiten“. Der Fußball könnte das vielleicht letzte soziale Netzwerk sein, das diesen Namen verdient. Dafür müsste er entscheiden, was er mit seiner Macht anfangen will – ob er mehr als ein Produkt sein könnte. Ob er jenseits von verbandlich genehmigten Lippenbekenntnissen seine Werte vertritt – und jene bestraft, die sie missachten (zur Erinnerung: Russland überfiel schon 2014 die Ukraine und wurde mit der WM 2018 trotzdem mit der global wertvollsten Werbeplattform beschenkt).

Jeder Bolzplatzkicker kennt die Ideale seines Sports: Fairness (keine versteckten Fouls!); Diversität (ist entscheidend auf dem Platz – egal, wer du bist und woher du kommst); Inklusion (es gibt selbst unter Profis keinen idealtypischen Spieler). Was mal nach Kirchentag klang, diktiert heute der Diversity-Officer jedem mittelständischen Schraubenhersteller ins betriebliche Glaubensbekenntnis. Und auch die wichtigsten Akteure des Sports wollen längst mehr als nur spielen.

DIE SPIELER: SUPER-AKTIVISTEN ODER MEGA-INFLUENCER?

Es war ein kalter Februarabend, der FC Bayern gewann gegen Frankfurt 1:0, doch für Robert Lewandowski war das Nebensache. Er hatte sich eine Kapitänsbinde in den ukrainischen Nationalfarben Blau und Gelb über den Arm gezogen. Nach dem Spiel wurde er emotional. Eine Woche nach der russischen Invasion in der Ukraine sagt der Pole: „Wir sind alle gegen Krieg und haben nicht gedacht, dass es so weit kommt. Das zu sehen, tut weh.“

Und: „Der Sport kann sich nicht rausnehmen.“ Dass Ruhm mit Verantwortung einhergeht, sieht nicht nur Lewandowski so. In England gilt der ManUnited-Star Marcus Rashford als Paradebeispiel des „mündigen Athleten“. Rashfords Engagement war es zu verdanken, dass vor zwei Jahren die Regierung von Boris Johnson einknickte und ein Programm zur Ernährung hilfsbedürftiger Schulkinder verlängerte. Rashfords Mutter war selbst zeitweise auf Essensausgaben angewiesen. Der Angreifer kämpft weiter für mehr soziale Gerechtigkeit, der „Financial Times“ sagte er: „Das System ist kaputt – wir brauchen Wandel.“

Die Stimme erheben, für Wandel eintreten. Das klingt nach den Schlagworten der Generation Fridays for Future. Das linksliberale Magazin „New Statesman“ nennt das Phänomen sogar den „Aufstieg des Super-Aktivisten-Spielers“. Und zählt zu jenen auch Manchester Citys Raheem Sterling (Antirassismus), Tottenhams Eric Dier (Antibrexit), Aston Villas Tyrone Mings (Schutz für Obdachlose, weil früher selbst obdachlos) und Ex-Arsenal-Verteidiger und Birkenstock-Liebhaber Héctor Bellerín (Veganismus, Klimaschutz). In Deutschland mischt sich Toni Kroos regelmäßig in gesellschaftliche Fragen ein. Der Weltmeister rief zur Wahl auf – und sagte: Nur wer die AfD wählen wollte, der könne zu Hause bleiben.

Doch gerade weil gesellschaftliches Bewusstsein immer relevanter wird, ist die Grenze zum Branding oft fließend. Auch beim DFB. Eine Aktion im vergangenen Jahr gegen Island fiel besonders negativ auf: Nationalspieler bemalten schwarze T-Shirts mit Buchstaben, was den Schriftzug „Human Rights“ ergab. Doch das Making-of-Video dazu wurde als „Marketing mit Menschenrechten“ wahrgenommen. Das ernste Thema wirkte wie Teil einer Imagekampagne. Sportliche Enttäuschungen, das Überangebot an letztlich belanglosen Spielen (Nations League) und der Streit um den abgeschmackten Slogan „Die Mannschaft“ habe zur Entfremdung von den Fans und zu leeren Stadien geführt.

Der Sportmanager Jordan Wise spricht von einem neuen „kulturellen Phänomen“. In den USA werden Athleten als „viel mehr als nur Sportler“ wahrgenommen – durch Aktivismus, Wohltätigkeit oder Unternehmergeist. In der deutschen Start-up-Szene mischen etwa Ilkay Gündogan (Fitness-Start-up Terra) oder Mario Götze (Bildungs-Start-up Knowunity) als Angel-Investoren mit. Im Zeitalter des durch die sozialen Medien befeuerten Individualismus wollten auch Spieler „die Grenzen des Sports überwinden“, sagt Wise. Und vielschichtige Persönlichkeiten sein. Natürlich liegt in diesem Phänomen auch ein wirtschaftlicher Wert. Das britische Upper-Class-Modelabel Burberry schmückt sich mit Marcus Rashford auch dank seiner Strahlkraft und Relevanz. City-Star Jack Grealish, der bislang eher mit eigenwilligen Haarreifen statt durch gesellschaftskritische Äußerungen aufgefallen ist, verwandelt sich hingegen zum Beckham der Generation Z – und wurde dafür von Gucci mit einem Millionen-Deal belohnt.

Ob durch ernsthaften Aktivismus oder Bling-Bling-Lifestyle – der Athlet transzendiert zum Mega-Influencer, der vielleicht mündiger, sicherlich mächtiger und in jedem Fall noch vermögender werden kann. Sportmanager Wise glaubt, dass die Superstars der Zukunft Deals und Partnerschaften in einer neuen Dimension abschließen werden, weil ihre Fans über sämtliche Plattformen und tiefgreifender mit den Idolen verbunden sind.

Etwa mit Erling Haaland, der den BVB verlassen hat. Der 21-Jährige ist als größtes Talent aller Zeiten in die moderne Kommerz- und Vermarktungsmaschinerie hineingeboren worden – womöglich hat schon seine Hebamme eine Beteiligung an künftigen Transfers ausgehandelt, scherzt man in der Branche. Mehr als eine halbe Million Euro pro Woche soll der Norweger laut englischen Medien künftig bei Manchester City verdienen. Und diese Macht wollen auch die Entscheider nutzen.

DIE FUNKTIONÄRE: SUPER-BOWL-TRÄUMER GEGEN BRATWURST-NOSTALGIKER

In diesen Tagen ist die Stimmung trüb in der Guiollettstraße in Frankfurt am Main. Hier residiert in einem Glasbau die Deutsche Fußballliga (DFL) und deren CEO Donata Hopfen, 46. Die Digitalexpertin erklärt: „Wir erleben derzeit eine Zäsur. Die Zeit des nahezu selbstverständlichen Wachstums scheint vorüber.“

In den vergangenen Spielzeiten, auf dem Höhepunkt der Pandemie, verloren die deutschen Topligen mehr als eine Milliarde Euro an Umsatz. In England waren es fast zwei Milliarden, trotzdem herrscht dort beste Laune: Erstmals hat die Premier League einen Vermarktungsdeal besiegelt, bei dem das Ausland mehr Geld einbringt als der heimische Markt.

Mehr als elf Milliarden Euro kassieren die Engländer insgesamt bis 2025. Die Auslandsvermarktung der Spanier ist pro Saison immerhin 700 Millionen Euro wert. Und die Bundesliga? Die kommt bei den TV-Auslandsrechten auf etwa 200 Millionen Euro. Ein Betrag dieser Größenordnung wird künftig in England allein an den Tabellenletzten ausgeschüttet, aktuell an Norwich City. FC-Bayern-Boss Oliver Kahn nennt das ein „erdrutschartiges Missverhältnis“. Und Hopfen formuliert im schönsten Manager-Sprech: Die Auslandsvermarktung sei „zweifellos eine der großen Herausforderungen“.

Im Fußball wächst durch die Pandemie die Kluft zwischen Geldelite und Geringverdienern. Die Konzentration von Vermögen an der Spitze (wie in der globalen Wirtschaft) nimmt auch durch die angestrebten UEFA- Reformen zu, glauben Ökonomen. Ab 2024 soll die Champions League über eine aufgeblähte Vorrundenliga und Play-off-Phase die Teilnehmer der K.-o.-Runde ausspielen. Das schafft hundert zusätzliche Partien – und mehr Einnahmen. Nicht qualifizierte Klubs können sich dank des UEFA-Klub-Koeffizienten in den Wettbewerb mogeln – und dessen Geldtöpfe anzapfen. Die Idee hebelt vor allem den sportlichen Reiz der Bundesliga weiter aus. Dass die Meisterschaftsdominanz des FC Bayern durchbrochen wird, scheint – in den aktuellen Strukturen – immer unwahrscheinlicher. Für Spannung sorgte immerhin die Qualifikation für Europa, die durch eine Wildcard verwässert würde.

Fans und Ligaverbände kritisieren den Plan. Denn auch die UEFA-Regel zur „finanziellen Nachhaltigkeit“ nutzt vor allem den Großen. Kaderkosten dürfen 70Prozent der Einnahmen nicht übersteigen – wer also mehr einnimmt, kann mehr an Gehältern bezahlen, kann größere Stars verpflichten. Was die UEFA als Nachhaltigkeit verkauft, wird die Ungleichheit zementieren. Zumal die Scheichklubs ohnehin machen, was sie wollen.

Manchester City, das einem Mitglied der Herrscherfamilie Abu Dhabis gehört, umgeht laut Recherchen des „Spiegel“ seit Jahren regelmäßig mit versteckten Zahlungen die Kostenkontrollen der Regelhüter. UEFA und englische Liga ermitteln, schon die Berichterstattung dazu versucht, aggressive Anwälte zu verhindern. Zwar rücken durch die Abramowitsch-Sanktionen Sportwashing und staatlicher Einfluss auf den Fußball in den Fokus. Doch auch die Aufregung um die Übernahme von Newcastle United durch den saudi-arabischen Staatsfond hat sich längst gelegt – trotz Protesten von Menschenrechtlern.

Anfang April, im „Hilton“ in Wien. Es tagt die Europäische Club-Vereinigung (ECA), die Entscheider der Branche treffen sich zum Brainstorming. Experten der Harvard Business School dozieren: niemals den Blick aufs große Ganze verlieren. Genau das predigt auch der katarische Geschäftsmann Nasser Al-Khelaifi. Er fragt: Wie kann es sein, dass sich der Super Bowl größer anfühlt als das Champions-League-Finale? Der Präsident von Paris Saint-Germain sagt: „Jedes Match muss ein Ereignis und Unterhaltung sein.“ Es gehe um „neue Spielorte, neue Märkte, neue Formate“. Er wolle den Status quo hinterfragen. Warum also tanzt Beyoncé für Footballer, aber nicht für Fußballer? In Deutschland ging der Versuch mit Helene Fischer beim DFB-Pokalfinale grandios schief. Überhaupt tickt das Land der Fußballpuristen ganz speziell.

Als Donata Hopfen sagte, man könne keine Maßnahme ausschließen, die mehr Geld bringe – sie bezog sich auf die Austragung des spanischen und italienischen Supercups in Saudi-Arabien –, führte das zu Empörung. Bei Hopfen und der DFL ist seitdem noch öfter von Tradition und Werten die Rede als bei jedem oberbayerischen Trachtenverein. Doch Purismus kann schnell zur Ideologie werden. Ein Ende der 50+1-Regel steht weiterhin nicht zur Debatte. In Klubs aus Spanien und Italien kaufen sich derweil Private-Equity-Firmen ein, und in den spanischen und französischen Ligaverband pumpen Finanzinvestoren Milliarden.

Wir sprechen mit einer Person, die einen Topverein und das Business seit Jahrzehnten von innen kennt. Sie sagt: Wenn ich Tradition will, gehe ich zu Lautern oder Sechzig, da gibt es Bier und Bratwurst. Aber erwarte ich das auch bei einem Premium-Produkt wie der ersten Liga? Wie kann es sein, dass ein DAZN-Abo für Neukunden immer teurer wird, aber der Wettbewerb immer reizloser ist – während die Engländer jede Woche mindestens ein Kracherspiel haben? Warum haben wir in Deutschland so viel Angst vor Veränderung?

Das klingt nach Ratlosigkeit, dieses Gefühl kennen Traditionalisten und Reformer. Weil sich der Spitzenfußball zu einer Oligarchie wandelt. Und die Bundesliga, abgesehen von Dortmund und Bayern, weiter zurückfällt. Zumindest wenn Erlöse, und langfristig wohl auch sportliche Qualität, die Maßstäbe sind.

Ex-St.-Pauli-Manager Andreas Rettig hatte mal die Idee, man könne die Bundesliga doch bewusst abgrenzen – und zur sozialsten und nachhaltigsten Liga der Welt machen. Wo Vereine Öko-Punkte sammeln, als Ergänzung zur Fair-Play-Tabelle. Könnte der Rückzug in den behaglichen Bundesliga-Biedermeier eine Lösung sein? Sogar BVB-Boss Watzke sagte in einem „Welt“- Interview: „Wir als Liga müssen den Menschen in Europa und der ganzen Welt vor allem klarmachen: Die Bundesliga ist politisch korrekt und sauber.“ Und dass man hier auf Nachhaltigkeitsthemen setze.

Donata Hopfen will vor allem durch die Digitalisierung im globalen Wettbewerb erfolgreicher werden. Es ist der Versuch eines Spagats: Laptop und Lederhose, Bits und Stadionbier. Doch auch dabei ist man auf der Insel schon viel weiter. Manchester City baut mit Sony das Etihad-Stadion ins Metaversum. Fußball als immersive Erfahrung für eine globale Anhängerschaft – es wäre ein gigantischer Zukunftsmarkt. Die Bratwurst gäbe es dort zwar nicht. Nur vermisst die in der schönen neuen Medienwelt vielleicht ohnehin keiner mehr.

DIE MEDIEN: NETFLIX ODER NIX?

Im Sommer 1992 staunten britische Fernsehzuschauer über einen TV-Spot, der „einen ganz neuen Ballsport“ versprach. Der Clip war eine popkulturelle Melange der 90er: Trikots wie das Gefieder von Kanarienvögeln. Goldkettchen auf nackter Brust im Dampf von Kabine und Mannschaftsdusche. Vor dem Stadion hebt der Bobby ein Kind aufs Pferd, statt Hooligans zu jagen. Und dazu singen die Simple Minds „Alive and Kicking“.

Nur vom neuen Ballsport war nicht mehr als kurzer Torjubel zu sehen. Das war also die neu geschaffene Premier League, die erstmals auf Rupert Murdochs Sky Sport zu sehen war. Und tatsächlich nahm die Werbung alles vorweg, was den Fußball künftig ausmachen sollte: Stars, Unterhaltung, Emotionen – und ein bisschen Sport. Mit einem massentauglichen Unterhaltungsprodukt wollte der Medienmogul sein Abo-TV-Modell profitabel machen. Doch vorher musste Fußball sauber werden. Wegen Gewaltexzessen und den Tragödien im Heysel-Stadion und in Hillsborough galt der Sport als Schande. Murdochs Kalkül ging auf: Der englische Fußball ließ seine dunkelste Zeit hinter sich, sein Pay-TV-Sender hatte mehr zahlende Zuschauer und die Vereine mehr Geld. Die Symbiose aus Ball und Bildschirm revolutionierte den Sport. Und bereitet den Weg für dessen totale Kommerzialisierung.

Anruf bei Wolff Fuss, 46, Sky-Kommentator, seit über 20 Jahren die emotionalste Stimme des deutschen Fußballs. Er sagt: „Die Premier League hat früh begriffen, was wir in Deutschland lange verschlafen haben: Der Trubel rund um die Spiele hat eine ähnliche Relevanz für die Aufmerksamkeit wie das Spiel selbst.“ „Ran“ auf Sat.1 ließ diesen Gedanken in die Berichterstattung einfließen. Doch Fuss erinnert sich an Kritik: Zeigt nicht so viele Promis auf der Tribüne, klagten manche Zuschauer. Dabei taten die Engländer genau das.

Für den Trubel sorgt inzwischen auch die Clickbait-Gier in einem mehrheitlich übellaunigen Social-Media- Kosmos. Fuss erinnert an die Posse um Bayern-Trainer Julian Nagelsmann und die Freiwillige Feuerwehr Süd-Giesing: „Da wurde leider unnötig ein Konflikt konstruiert.“ Man solle sich nicht wundern, wenn Vereine künftig nur noch „chemisch gereinigte Videos“ verschicken. Eine weitere mögliche Konsequenz: Meinungsstarke Akteure wie Nagelsmann ziehen sich auf maximal ungefährliche Floskeln zurück.

Das ist bedauerlich, denn hier könnte man sich von Amerikanern und Briten etwas abschauen. In den USA wie in der Premier League gilt für Spieler und Trainer weitgehend: Sei, wie du bist. Die Engländer lieben Jürgen Klopp gerade wegen seiner in jeder Hinsicht großformatigen Klappe. Auch ihm verrutscht mal ein Satz, doch das ist okay. Gerade das macht ihn menschlich und sympathisch – und diese Lockerheit wirkt ansteckend.

Auch Fuss redet „wie mir der Schnabel gewachsen ist“, obwohl der Klimawandel im Umgang miteinander den Shitstorm wahrscheinlicher macht. Er fordert: „Lasst die Synagoge im Dorf“, wenn Bayern mühelos bei Maccabi Haifa gewinnt; er vergleicht einen schwachen FC Barcelona mit „Barfuß Bethlehem“; und bei zu vielen Fehlschüssen wird auch mal „der Hund in der Pfanne verrückt“. Doch auch Fuss’ Medium, das essenziell ist für die Fußballfolklore, verliert an Macht. Die Premier League arbeitet an einem Plan, ihr Produkt direkt an den Konsumenten zu verkaufen mittels einer eigenen Streamingplattform. In der NBA gibt es ähnliche Modelle. Noch ist die Idee Druckmittel, um in den Verhandlungen mit Sendern, Streaminganbietern und Techkonzernen wie Amazon den Preis hochzutreiben.

DIE KONSUMENTEN: WIE WÄRE ES, WENN WIR ES GANZ ANDERS MACHTEN?

Auch mit Bundesliga-Fußball stillt Amazon den enormen Content-Hunger seines Streamingangebots. DAZN wächst ebenso, macht aber eine Milliarde Verlust und kann sich die teuren Rechte nur leisten, weil der schwerreiche Unternehmer Len Blavatnik als Investor weiter Geld zuschießt. Um weniger abhängig zu sein, werden wohl auch Bestandskunden bald mehr für das Abo bezahlen müssen. Der Markt wird immer heftiger umkämpft. Zumal die FIFA auf ihrer werbefinanzierten eigenen Streamingplattform FIFA+ bereits Tausende Livespiele zeigt – und den Trubel drum herum.

Entscheidend ist: auf dem Platz – und auf der Plattform? „In Deutschland wird noch Wert darauf gelegt, dass die Berichterstattung unabhängig ist – und das sollte so bleiben“, sagt Fuss. Trotzdem glauben Experten, dass Ligen und Verbände langfristig den Zwischenhändler gern aus dem Geschäft nehmen würden. Und direkt beim Konsumenten kassieren. Also beim „Fan“.

Ein Hauch von Revolte lag Mitte März über dem Prinzenpark in Paris: Neymar und Messi filetierten die Abwehr von Bordeaux so meisterhaft wie Sterneköche ein Entrecote. Doch das 3:0 konnte die PSG-Anhänger nicht besänftigen. Gnadenlos buhten sie die Superstars aus. Nicht nur das Champions-League-Aus gegen Real brachte die Fans auf. Der Frust saß viel tiefer. „Zu viele nutzlose Köpfe! Robespierre, wo bist du?“, hieß es auf einem Banner der Fanvereinigung Collectif Ultras Paris.

Sie fordert schon lange den Abschied von Präsident Al-Khelaifi. Er solle zurücktreten, im Interesse „keiner Marke, keines Marketingprodukts – sondern unseres Klubs!“
Wut und Protest kennen auch andere Großklubs: Bei Manchester United begehren die Fans gegen die visionslosen US-Besitzer auf. Der FC Bayern geht gerichtlich gegen Anhänger vor, um eine Debatte über das umstrittene Katar-Sponsoring zu vermeiden. Auch hier wieder ein Gefühl der Ohnmacht. Sind wir austauschbare Figuren auf einem globalen Monopoly-Brett? Sind unsere „Eyeballs“, die Maßeinheit für mediale Aufmerksamkeit, wichtiger als unsere Liebe und Loyalität?

Harald Lange, 53, von der Universität Würzburg kennt diese Fragen. Der Professor mit den karierten Hemden und ausgebeulten Jeans passt nicht in die Glitzerwelt des Fußball-Biz. Er hinterfragt den Status quo. Lange beschreibt einen Teufelskreis: Wir laden Fußball auf mit Werten wie Treue, Fair Play, Loyalität und Solidarität. Vor allem das macht Fußball wirtschaftlich so interessant. Doch je mehr diese Bedeutung kommerziell ausgeschlachtet wird, desto mehr wird sie ausgehöhlt.

Lange arbeitet derzeit an einer Studie zur Stimmung hinsichtlich der Winter-WM in Katar. In diesem Turnier spiegelt sich alles, was den Fußball der Gegenwart und wohl auch der Zukunft so frustrierend macht: seine Aushöhlung und Kälte. Die Studie zeigt, dass mehr als 80 Prozent der befragten Fans keine Vorfreude auf das Turnier spüren. Nicht einmal ein Drittel der Fußballfans will Spiele im TV anschauen. Auch weil dort Tausende asiatische Arbeiter beim Bau von Stadien zu Tode kamen. Und die Rechte von Menschen und Minderheiten nicht in dem Maße geachtet werden, wie es in Paris, München oder London selbstverständlich ist.

Dann stellt Lange die Frage aller Träumer: Was wäre, wenn? Was wäre, wenn die WM-Vergabe eine Belohnung für jene Staaten wäre, die freiheitlich-demokratische Werte hochhalten? Und wenn Bewerber, die diese Werte missachten, offensiv scheiterten? Wäre auch der kommerzielle Wert des Fußballs nicht viel größer, wenn sich Sponsoren mit einer ethischen und nachhaltigen Plattform schmücken könnten? Hauptgeldgeber für die WM in Katar sind ein chinesischer Molkerei-Konzern und eine Kryptobörse. Die scheinen mit dem miesen Ruf der FIFA und ihrem Turnier kein Problem zu haben – sie haben ja selbst nicht den besten. Lange fragt: „Wie weit wollen wir das wirtschaftliche Wachstum des Fußballs noch treiben, bis wohin ergibt das noch Sinn?“

Es geht wohl noch sehr viel weiter. Fans lieben, verzweifeln und verzeihen. Und kommen wieder. Selbst jene, die nur mit dem Insta-Herzchen dabei sind. Das macht den Fußball krisensicher und so wertvoll, zumindest als Geschäft. Und darum haben wir Fans wohl genau den Sport, den wir verdienen. Auch in Zukunft.

Schade. Es wäre mehr drin gewesen.