Großbritannien will Julian Assange an die US-Justiz übergeben, die Saga um den WikiLeaks-Gründer spitzt sich zu. Allein um das Schicksal eines verschrobenen Nerds geht es dabei längst nicht mehr. Sondern um die Frage: Leben wir die Werte, die wir predigen? Unser Autor begleitet das Schicksal des Antihelden seit 2010 und traf nun seine Frau, Stella Assange, in London
An einem frostigen Dezembertag kurz vor Heiligabend wartete ich vor einem englischen Anwesen auf ein Phantom. Es war das Jahr 2010, und in jenen Tagen hielt ein Computerfreak die Welt in Atem. Ein Mann, der Amerikas schmutzige Geheimnisse und Kriegsverbrechen offenbart hatte. Wie ein Geist schien dieser Enthüller durch die digitale und analoge Welt zu spuken. Sein Name: Julian Assange.
Ich war ein junger Reporter, musste mir einen Namen machen – und hier war meine Gelegenheit. Der Auftrag des Chefredakteurs an mich und den Fotografen war eindeutig: Findet, fotografiert und sprecht mit diesem WikiLeaks-Kerl. Die Suche führte uns nach Ellingham Hall in der Grafschaft Norfolk. Dort war der Chef der Enthüllungsplattform auf dem Landsitz eines britischen Journalisten untergeschlüpft.
Mit uns war die Weltpresse in den Ort eingefallen, um diesen obskuren Publizisten, Blogger, Journalisten – ja, was eigentlich? – aufzuspüren. Schwedens Staatsanwälte forderten die Auslieferung des Australiers, denn dort wurde wegen Vergewaltigung und sexueller Nötigung gegen ihn ermittelt. Assange war auf Kaution freigekommen, er musste eine elektronische Fußfessel tragen. Es war ein globaler Spionagethriller um Sex und Verrat. Es war eine Riesenstory.
Kaum hatten wir angeklopft, erschien zunächst Assanges genervter Gastgeber. Er wollte uns vom Hof jagen, er hatte den Trubel wirklich satt – doch die Kollegenehre gebot es, dass er den Gast für ein Interview auslieferte. Und so erschien im Hof ein Schlaks im Tweed-Jacket, das Haar schneeweiß, die Nase vom Frost gerötet. Ein (vermeintlicher) Spion, der aus der Kälte kam.
Assange schlug vor, einen Spaziergang über das Anwesen zu machen und zu plaudern. Er wirkte gleichzeitig hellwach und entrückt. An seinen Händedruck erinnere ich mich genau: Der war seltsam weich, und es knackte etwas in seinem Unterarm – als trage er einen Fake-Arm. Ein Typ, der in jeder Hinsicht schwer zu fassen ist, dachte ich.
Assange erzählte ausführlich von einer „Verschwörung“ gegen ihn und dass er mächtige Feinde im Weißen Haus und bei der CIA habe. Zweifellos hatte er sich mit gewaltigen Mächten angelegt. Er hatte Kriegsverbrechen und Verstöße gegen die Menschenrechte im Irak und Afghanistan öffentlich gemacht. Die Beweise fanden sich in den Hunderttausenden Dokumenten, die ihm die inzwischen begnadigte Whistleblowerin Chelsea Manning zugespielt hatte.
Die Flucht in die englische Provinz mit der Fußfessel am Bein war für Assange der Beginn einer Reise in die Finsternis, die bis heute andauert. Sie führte ihn über Ellingham Hall bis in Ecuadors Botschaft in London, wohin er flüchtete, um seine Auslieferung zu verhindern. Dort harrte er bis 2019 aus. Nun sitzt er im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh. Dabei geht es nur mehr um ein Auslieferungsverfahren. Die Ermittlungen wegen Vergewaltigung sind längst eingestellt.
Vor zwei Wochen erließ die britische Innenministerin nach langem Hin und Her den Auslieferungsbefehl. In den USA drohen Assange wegen Geheimnisverrats und Spionage 175 Jahre Haft. Assanges Anwälte wollen notfalls bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen, um eine Auslieferung zu verhindern. Der Prozess könnte sich also noch Monate hinziehen.
Der Fall des inzwischen 51-Jährigen Julian Assange ist komplex. Er ist ein Drama um Schuld und Sühne, Verbrechen und Strafe und die wohl erste Ikone des anarchischen Informationszeitalters. Wobei nicht klar ist: Was genau ist die Schuld? Und was rechtfertigt die Strafe?
Für seine Feinde ist Assange ein „feindlicher Agent“ (Ex-US-Außenminister Mike Pompeo), der „wie Osama bin Laden gejagt werden sollte“ (Alaskas Ex-Gouverneurin Sarah Palin). Seine Unterstützer sehen in Assange einen Verfechter freiheitlicher Grundwerte. Sein Vater John Shipton erklärt: „Wenn Julian untergeht, geht auch der Journalismus unter.“
Der Fall Assange zwingt den Westen, in die eigenen moralischen Abgründe zu blicken. Denn dieser Fall ist größer und wichtiger als der Mensch vor der Anklagebank. An dessen Schicksal entscheidet sich auch, ob wir die Werte leben, die wir predigen.
Das Interview damals war mein erster bescheidener Scoop. Kollegen sprachen mich Jahre später noch auf die Geschichte an, selbst als ich Assanges Schicksal kaum noch begleitete. Ich interviewte seinen Vater und seine glamouröse Anwältin Jennifer Robinson. Doch der WikiLeaks-Vogel galt zunehmend als wenig zuverlässiger, nerviger Unsympath. Auch für jene Medien, mit denen er kooperiert und Dokumente geteilt hatte.
Doch selbst viele Journalisten, die ihn verachten, machen sich aus Prinzip für ihn stark. Ob er ein „richtiger Journalist“ ist oder nicht. Spielt keine Rolle. Er veröffentlichte anhand von Geheimdokumenten Beweise für Verbrechen. Er brachte im öffentlichen Interesse die Wahrheit ans Licht. Darum sollte es jedem Journalisten gehen. Und das muss in einer Demokratie ohne Angst möglich sein.
Als wichtigsten Beweis führen Assanges Unterstützer das WikiLeaks-Video „Collateral Murder“ von 2010 an. Es zeigt, wie die Besatzung eines US-Helikopters brutal und mit zynischem Jubel zwei Reuters-Journalisten und mehr als ein Dutzend irakische Zivilisten tötet. Bis heute wurde keiner der Täter belangt.
Doch WikiLeaks enthüllte nicht nur Kriminelles. 2016 veröffentlichte die Plattform E-Mails aus Hillary Clintons Wahlkampagne, die höchstwahrscheinlich vom russischen Geheimdienst beschafft wurden. Donald Trump soll Assange eine Begnadigung angeboten haben – sofern der sich politisch nützlich mache. Ein Deal, auf den Assange nicht einging, wie seine Anwältin vor Gericht sagte.
„Die mentale Last ist enorm. Er muss verarbeiten, was im Prinzip ein Todesurteil ist“
Stella Assange Ehefrau von Julian Assange
Trumps Regierung verfolgte Assange übrigens noch härter als Vorgänger Barack Obama. 2017 enthüllte Wiki-Leaks „Vault 7“, ein von der CIA verwendetes Tool, das Browser, Fernseher, die Systeme von Smartphones, Computern und sogar Autos hacken kann. Die Veröffentlichung war ein empfindlicher Schlag für die US-Spione. Laut Recherchen von Yahoo News ließ Ex-CIA-Chef Mike Pompeo prüfen, wie man Assange in der Botschaft entführen oder ihn dort vergiften könnte.
Ermittlungen in Madrid offenbaren, wie CIA-Helfer einer spanischen Sicherheitsfirma den Flüchtigen dort jahrelang illegal überwachten und belauschten. Gespräche mit Anwälten wurden mitgeschnitten, es wurde sogar versucht, eine Windel zu stehlen, um an die DNA von Assanges Kindern zu kommen. Denn in der Botschaft hatte der WikiLeaks-Boss eine Familie gegründet.
Es ist ein heißer Junitag in London, als ich Stella Assange treffe. Die 39-Jährige hat zu einer Pressekonferenz geladen, kurz zuvor wurde der Auslieferungsbefehl gemeldet. Assanges Ehefrau ist eine zierliche Person in weißen Turnschuhen. In ihren Augen glaubt man Schmerz und Entschlossenheit zu erkennen.
Die in Oxford ausgebildete, gebürtige Südafrikanerin verliebte sich 2015 in ihren Mandanten. Das Paar fand trotz Überwachung Wege, die Söhne Gabriel, 5, und Max, 3, zu zeugen – genau genommen mithilfe eines Campingzelts als Sichtschutz, in dem romantische Lichter brannten, wie Stella im US-Fernsehen erklärte. Nachdem Assange von der Auslieferung erfahren hatte, habe man ihn im Belmarsh-Gefängnis ausgezogen, durchsucht und in eine kahle Zelle verlegt – wegen des Selbstmordrisikos: „Die mentale Last ist enorm, er muss verarbeiten, was im Prinzip ein Todesurteil ist.“
Noch schlimmer sei aber ein Verschwinden ihres Mannes im System der amerikanischen Supermax-Gefängnisse. „Wir sind eine starke Familie, wir kämpfen weiter“, sagt sie mit brüchiger Stimme. Als Gesicht der Free-Assange-Kampagne kämpft sie unermüdlich. Die Hochzeit wurde ein Medienspektakel, in weißem Kleid schnitt sie vor den Knastmauern eine imposante Torte an. Das Treiben wirkte einen Tick zu schrill – immerhin kam der Fall wieder in die Schlagzeilen.
Für den bislang wichtigsten Erfolg der Aktivisten sorgte allerdings Nils Melzer. Der Schweizer UN-Sonderberichterstatter für Folter beschäftigte sich mit dem Fall und stellte bei Assange Merkmale von „psychologischer Folter“ fest, wegen der Erniedrigungen und der Isolation in der Botschaft. Assange sah demnach kein Sonnenlicht. Drei Monate bevor ihn die Polizei aus dem Gebäude schleppte, nahm man ihm das Rasierzeug weg – damit er einen besonders derangierten Eindruck machte.
„Wenn der Westen nicht bereit ist, seinen Werten zu folgen, entsteht ein Legitimationsproblem“
Sigmar Gabriel Ex-Vizekanzler
Für den Schweizer ist der Fall Assange einer der „größten Justizskandale aller Zeiten“. Es handle sich um eine „Kollusion zur systematischen Verfolgung, Knebelung und Zerstörung eines unbequemen politischen Dissidenten“, schreibt Melzer in seinem Buch zum Fall. Die Missbrauchsopfer in Schweden bezeichnet der Jurist als unglaubwürdig. Eines der Opfer hat ein Buch über ihre Begegnungen mit Assange geschrieben. Sie wirft Melzer vor, er verbreite eine „Konspirationstheorie“.
Melzers Aussagen zu gelenkter Justiz und devoten Medien passen in die Narrative rechter Zirkel. Auch das gehört zum Drama um Assange: dass es Demokratieverfechter und -feinde gleichermaßen fasziniert. Rechten und Putin-Apologeten dient er als Kronzeuge für die angebliche Verlogenheit des Westens; Corona-Leugner verehren ihn als Ikone des Freiheitskampfes; Verschwörungstheoretiker feiern ihn als Rebellen gegen eine totalitäre Wirtschafts- und Politelite.
Doch auch aus der Mitte der Gesellschaft kommt eine bunte Schar an Unterstützern: „Baywatch“-Star Pamela Anderson, Fashion-Ikone Vivienne Westwood, auch Annalena Baerbock prangerte schwerwiegende Verstöße gegen die Europäische Menschenrechtskonvention an. Ein prominenter Fürsprecher ist auch der frühere Vizekanzler Sigmar Gabriel.
Melzers Bericht zu Assange sei weitgehend ignoriert worden – „das sollte nicht sein“, sagt mir der ehemalige Außenminister am Telefon. Der Westen verweise gern auf seine demokratischen Werte. Dass ausgerechnet hier eine Person, die Menschenrechtsverletzungen aufdeckt, mit Strafverfolgung rechnen müsse, sei absurd. Gabriel fürchtet: „Wenn der Westen nicht bereit ist, seinen Werten zu folgen, dann entsteht ein Legitimationsproblem. Und das wäre ein verheerendes Zeichen.“
Ist der Fall Assange verhältnismäßig? Sollte nach einer angeblichen „Beihilfe zur Beschaffung von Geheiminformationen“ mehrfache lebenslange Haft drohen? Ist es nachvollziehbar, dass der Kronzeuge der US-Ankläger ein in Island verurteilter Betrüger und Päderast ist, dem gegen eine Aussage Straffreiheit zugesichert wird?
Und auch mich treibt eine Frage um: Habe ich dem Fall, der so entscheidend ist für das Selbstverständnis meines Berufsstandes, stets die Aufmerksamkeit gegeben, die er verdient hätte? Vielleicht habe ich diese Frage in den zwölf Jahren nach meinem Treffen mit Assange allzu oft verdrängt.
Anthony Albanese, Australiens Premierminister, könnte nun ein Licht auf Assanges Reise durch die Finsternis sein. Der will den inhaftierten Landsmann endlich nach Hause holen. Es sei an der Zeit, die Sache zu beenden, erklärte der Politiker. „Genug ist genug.“ Ich finde: Er hat recht.