Der norwegische Literatur-Superstar Karl Ove Knausgård über verschossene Elfmeter, Putins Krieg, die Schrecken des Klimawandels und warum er sein Werk für ein Desaster hält, das ihn nicht einmal finanziell ganz unabhängig gemacht hat.
Hither Green, Süd-London, neun Uhr früh. Karl Ove Knausgård, 53, erscheint am Treffpunkt nahe dem Bahnhof. Solider Händedruck, scheues Lächeln. Mühsamer Small Talk über die Unberechenbarkeit des britischen Sommers, der schnell versandet. Knausgård – Literatur-Megastar und Idol der Intellektuellen – lebt hier mit seiner dritten Frau und sieben Kindern. Weltberühmt wurde der Norweger mit seiner brutal persönlichen Ich-Beschau im siebenbändigen Erzählzyklus «Mein Kampf», mit dem er Millionen Leser in den Bann zog. Nun ist sein neues Buch «Der Morgenstern» erschienen, der Auftakt zu einer Reihe von fiktionalen Romanen. Der Fotograf schlägt vor, zunächst Porträts in Knausgårds Nachbarschaft zu machen. Mit dem silber-weissen Haarschopf und den Skinny-Jeans wirkt der Hüne wie eine Birke, die durch ein fremdes Terrain aus Backstein, Barber-Shops und Billig-Cafés stakst. Seine Stimme ist weich. Er raucht Kette. Vielleicht bricht ja Small Talk über Fussball das Eis.
Ihr Landsmann Erling Håland wechselt zu Manchester City. Haben Sie dem Fussballstar schon Tipps für das Leben in England gegeben?
Karl Ove Knausgård: Leider nein. In Norwegen kennt man sich eigentlich. Doch Håland wuchs in einer eigenen, abgeschirmten Welt auf. Schade, ich würde ihn liebend gern treffen und über ihn schreiben.
Was interessiert Sie besonders?
Vor allem, wie er mit Druck umgeht. Ich bewundere Typen wie ihn. Karim Benzema von Real Madrid ist auch so einer. Der legt in der Nachspielzeit den Ball auf den Elfmeterpunkt und haut ihn rein – als wäre es die leichteste Sache der Welt.
Wie ist es um Ihre Nervenstärke bestellt?
Vor einiger Zeit war ich auf einer Kulturveranstaltung eingeladen. Die Gäste sollten bei einem spassigen Elfmeterschiessen mitmachen. Ich konnte nicht Nein sagen. Kaum hatte ich den Ball, spürte ich das Blut im Kopf rauschen. Alle schauten mich an. Mein Schuss ging vorbei, es war kläglich und furchtbar peinlich.
Man trifft kaum noch Kettenraucher wie Sie. Treiben Sie Sport, spielen Sie selbst Fussball?
Dafür fehlt mir die Zeit. Ich gehe hin und wieder ins Stadion, manchmal mit den Kindern. Ich mag diese ur-britische Erfahrung, den altmodischen, etwas ranzigen Selhurst Park von Crystal Palace, der mitten im Wohngebiet liegt. Es ist gleichzeitig furchtbar und schön. Aber ich habe auch nichts gegen die Arenen von Arsenal und Tottenham, die eher an Multiplexkinos erinnern.
Funktionäre in Norwegen machen besonders offensiv Stimmung gegen die WM in Katar. Einer klagte, das Turnier finde auf einem Friedhof statt, in dem Tausende Stadionarbeiter begraben sind.
So ist es wohl. Dieses Turnier fühlt sich falsch an. Es findet im Winter statt, das Land Katar hat keine Fussballkultur, hinzu kommt die Menschenrechtsproblematik. Die WM ist ein wichtiges Ereignis im Leben vieler Menschen. Furchtbar, dass das Leben aus dem Turnier gesaugt wird – wegen Gier und Korruption.
Aber einmal ehrlich: Werden Sie die WM deshalb boykottieren und keine Spiele anschauen?
Wahrscheinlich nicht. Die WM nicht zu verfolgen, wäre sehr hart für mich. Es ist dumm, aber so ist es.
Auch Ihr neuer Roman «Der Morgenstern» ist düster. Dämmert der westlichen, liberalen Mittelschicht gerade, dass es mit dem angenehmen Leben endgültig vorbei ist?
Das ist eine grosse Frage. Ich bin ja auch nur Teil eines Netzes, in dem alles mit allem verbunden ist. Wenn ich schreibe, spüre ich, wie die Welt gerade erschüttert wird. Früher war das nicht so, jetzt schon.
Wie kommt das?
Ich versuche in der Flut an Nachrichten zu verstehen, was wichtig ist. Das Buch nach «Der Morgenstern», das in Norwegen schon erschienen ist, spielt in Russland. Kaum war es veröffentlicht, begann der Krieg. Ich fühlte mich, als wäre ich persönlich betroffen. Es war furchtbar. Ich habe ein Event organisiert, auf dem Schriftsteller ukrainische Literatur lesen, um den Betroffenen eine Stimme zu geben. Ich dachte, ich muss etwas tun gegen das Gefühl der Hilflosigkeit. Vielleicht habe ich damit aber nur versucht, mich selbst zu trösten.
Russland übt einen starken Reiz auf Sie aus. Sie haben einmal geschrieben, dass Wladimir Putins Aufstieg gelang, indem er die Geschichten der Vergangenheit so erzählt hat, dass sie das heutige Russland rechtfertigen.
Russlands Literatur und seine Erzählungen haben mich früh fasziniert. 2018 war ich für eine Reisegeschichte für das Magazin der «New York Times» im Land unterwegs. Ich erlebte auch Demonstrationen, und schon damals spürte man, wie das Regime die Schrauben immer fester anzog. Aber ich verstehe auch, was Kissinger meint, wenn er sagt, es müsse für Putin einen Ausweg aus dem Konflikt in der Ukraine geben. Das klingt schrecklich, aber vielleicht müssen Politiker so unemotional auf die Lage schauen.
Krieg, Atomangst, Klimawandel, Inflation, Ende der Globalisierung – was verbindet diese Krisen der Gegenwart?
Sie interviewen leider keinen Philosophen. Ich bin überhaupt nicht qualifiziert, mich dazu zu äussern. Ich weiss nur, dass heute alles präsenter und schneller ist. Das steigert das Gefühl der Dringlichkeit. Und das ist etwas Künstliches. Wenn irgendwo eine Terrorattacke passiert, dann kannst du live zuschauen, aber es hat nichts mit dir zu tun. Trotzdem kriecht dir der Horror unter die Haut. Es ist eine neue Welt, und man muss lernen, mit ihr klarzukommen.
Was ist Ihre grösste Furcht?
Wahrscheinlich der Klimawandel. Er löst ein Gefühl der Hilflosigkeit aus. Wälder verschwinden. Pflanzen- und Tierarten gehen verloren. Und wir können nichts dagegen tun. Hinzu kommen neuen Technologien. Sie beherrschen alle Aspekte unseres Lebens. Und wir haben dabei nichts zu melden, niemand hat uns gefragt, ob das okay ist. Aber das ist die Struktur des Kapita- lismus, er muss immer wachsen und weitermachen. Aber wir sollten nicht vergessen, dass auch viel Gutes vor sich geht. Wir können nicht abstreiten, dass wir nach wie vor in fast makellosen Zeiten leben.
Plötzlich hat es Knausgård eilig. Sein Parkschein ist abgelaufen, er muss den Wagen umparkieren. Wir steigen in seinen blauen, mindestens zehn Jahre alten Citroën C3. Ein klappriger Kleinwagen, der schonungslos von seinem chaotischen Leben erzählt wie ein Kapitel aus «Mein Kampf»: zerknitterte Plastikflasche auf dem Boden, die Fussmatten vollgekrümelt, der Kindersitz befleckt mit Milch, Rotz und Tränen. Spuren des alltäglichen Gross- familienwahnsinns. Nach fünf Minuten Fahrt halten wir vor einem Doppelhaus im typisch viktorianischen Stil. Das Fenster im ersten Stock ist mit Büchern fast komplett zugemauert. Wir spazieren zu einem «Greasy Spoon», einem traditionellen Billig-Café nebenan. Drinnen trinken zwei Bobbys Tee, ein Bauarbeiter blättert in der «Sun». Knaus- gård holt pechschwarzen Kaffee und einen Aschenbecher.
Einverstanden, dass niemand die Sorgen, Nöte und Phantasien des progressiven, mittelalten Mannes so treffend beschreibt wie Sie?
So wird von aussen versucht, meine Arbeit zu definieren. Aber was ich beschreibe, kommt von innen, aus mir selbst. In «Mein Kampf» geht es um Identität und darum, was von dir als Mann und Vater erwartet wird. Zwangsläufig nimmt man damit eine Rolle an. Ja, natürlich bin ich ein mittelalter weisser Mann. Aber Identität ist eine soziale Konstruktion. Ich dachte, in «Mein Kampf» geht es nur um mich. Und dann – boom! – so viele Leute kamen und sagten: Du schreibst über mein Leben. Und das schafft nur Literatur: dass du etwas Intimes teilst, und andere fühlen sich dadurch an ihr eigenes Leben erinnert. Deshalb ist Gender und Geschlecht unwichtig. Ich kann eine Autorin lesen und mich selbst in ihrem Text fühlen. Das ist das Wunderbare an Literatur.
Sie haben einmal geschrieben: «Ich lief durch Stockholms Strassen, modern und feminisiert, doch in mir tobte ein Mann des 19. Jahrhunderts.» Sind Sie das immer noch?Ja, sicher. Ich bin ein altmodischer Romantiker. Nicht, was die Liebe und Beziehungen betrifft, eher in meinem Schreiben. Oft kommt die Natur vor, und ich suche nach dem Edlen und Erhabenen.
Sie führen mit Ihrer dritten Frau, Ihrer früheren Lektorin Micha Shivat, einen Haushalt mit sieben Kindern. Vier Kinder sind nach der Trennung von Ihrer zweiten Frau Linda Boström mit nach London gezogen. Zwei Kinder hat Ihre jetzige Frau. Mit ihr haben Sie noch einen dreijährigen Sohn. Ihr Tipp an alle Eltern einer Patchworkfamilie?
Da habe ich keinen. Auch angehenden Schriftstellern kann ich keine Ratschläge geben. Die Wahrheit ist: Du musst deinen Weg selbst gehen. Ich kann dir keine Abkürzung aufzeigen.
Haben Ihre Kinder die Trennung und den Umzug schnell verkraftet?
Sie haben sich hier bald zurechtgefunden. In Schweden haben sie in einer sehr monokulturellen Gesellschaft gelebt. Hier ist alles multikulturell. Das gefällt mir. Als Kind in Norwegen war mein Horizont beschränkt. Meinen Kindern steht die Welt offen.
Wie finden Ihre Kinder den Umstand, dass sie einen weltberühmten Vater haben?
Sie haben keinen Bezug dazu. Berühmtheit ist ja relativ. Wenn wir in Schweden sind, sehen sie meine Bücher in den Läden, aber das war’s. Hier bin ich erst zweimal in einem Supermarkt erkannt worden. Ich kann ungestört leben. In Schweden wäre das anders, vor allem für meine Kinder. Jeder Lehrer, alle Mitschüler wüssten, wer ihr Vater ist.
Sie haben in «Mein Kampf» die intimsten Momente Ihres Familienlebens fast schon ausgeschlachtet, sogar die Krankheit Ihrer manisch-depressiven Ex-Frau. Wie sollen Ihre Kinder das jemals verzeihen?
Ich weiss es nicht. Mit Eltern umzugehen, ist von Natur aus schwer. Ich glaube, Thomas Manns Frau Katia hat gesagt: Du kannst dich über deine Eltern beschweren, bis du dreissig bist, aber danach kannst du ihnen für nichts mehr die Schuld geben. Ich werde die Reaktion meiner Kinder auf die Bücher akzeptieren und damit umgehen.
Welche Reaktion würden Sie sich wünschen?
Es ist eine grosse Last, dass meine Kinder in den Büchern vorkommen – und es wird ihr ganzes Leben lang eine Last sein. Aber vielleicht verändert sich ihre Wahrnehmung der Bücher im Laufe des Lebens. Ihre Reaktion wird anders sein, wenn sie als 19, 29 oder 39 Jahre alte Menschen darin lesen. Die Bücher sind voller Liebe für meine Kinder. Ich hoffe, dass sie auch das erkennen.
Die liebliche Sommerhauswelt Schwedens haben Sie gegen ein Leben in der kalten Leistungsgesellschaft der Anglo-Sphäre getauscht. Ihr Fazit nach sieben Jahren?
Was mich am meisten beeindruckt, ist das System der Klassengesellschaft. Und diese unglaubliche Kluft zwischen den Reichen, die so enorm viel haben, und den Armen, die so extrem wenig haben. Und dass dieser Umstand akzeptiert wird. Keine politische Bewegung hier fordert, das zu ändern. Es ist die Natur dieser Gesellschaft. Skandinavien ist viel egalitärer. Soziale Mobilität ist sehr wichtig und dass jeder dieselben Chancen hat. Freie Unis, kostenfreie Schulen, das steckt dort allen im Blut. Hier denkt man völlig anders. Ich mag, dass sich Gesellschaften so unterschiedlich organisieren können. Aber die Armut ist schockierend.
Was ist das Beste an einem Dasein als Millionär?
Ich bin nicht sehr reich. Nein, wirklich.
Ach, kommen Sie, Sie haben Millionen Bücher verkauft.
Ich habe eine Familie mit neun Mitgliedern zu versorgen. Ich habe ein Haus in London. Ich versuche einfach nur, den Kopf über Wasser zu halten.
Ist Ihnen Geld wichtig?
Ich wünschte, das wäre es. Dann würde ich vielleicht besser damit umgehen. Leider habe ich eine sorglose Beziehung zu Finanzen.
Welchen Luxus gönnen Sie sich?
Na ja, ein Besuch im Fussballstadion ist teuer. Und ich kaufe gern Kunst, nichts Extravagantes. Ich mag die Bilder von den schwedischen Malerinnen Mamma Andersson oder Anna Bjerge.
Wann ist Ihr grandioser Erfolg eine Bürde?
Nach meinen ersten beiden Büchern, die sehr erfolgreich waren, wartete ich fünf Jahre bis «Mein Kampf». Dann schrieb ich einfach drauflos, ohne nachzudenken, ohne Erwartungen. Aber selbst nach diesem Erfolg wurde ich nicht selbstbewusster. Ich muss jeden Tag aufs Neue dafür kämpfen. Zum Glück habe ich einen Lektor, mit dem ich schon meine gesamte Karriere zusammenarbeite. Ich schicke ihm am Nachmittag den Text, und am nächsten Morgen sagt er hoffentlich: Das ist gut, mach weiter.
Lassen Sie sich von dem Rummel um Ihre Person noch immer blenden?
Ich kann meine alten Bücher nicht mehr lesen. Manchmal glaube ich dem Hype und denke: Wow, das ist wirklich gut. Und dann schlage ich ein Buch auf, und ich muss erkennen: was für ein Desaster. Und beim Schreiben denke ich oft: Du bist am Arsch. Es ist hart, weil die Kritiker mir etwas einreden, aber ich sehe alle meine Schwächen – und so entsteht für mich dieses widersprüchliche Bild von mir selbst.
Wann haben Sie zuletzt gedacht: Du bist am Arsch?
Im Prinzip jeden Montag, wenn ich aus dem Wochenende komme. Ich brauche für das Schreiben den Flow, muss ganz im Augenblick leben. Wenn man die Erwartungen zu nahe an sich ranlässt, vermasselt man die Chance wie ein Torjäger, der einfach nicht trifft.
Was ist das Beste am Älterwerden?
Man ist weniger neurotisch. Alles ist leichter und entspannter.
Was ist das letzte Tabu, über das Sie niemals schreiben würden?
Es gibt viele. Wenn ich über lebende Menschen schreibe, gibt es Millionen Tabus.
Wirklich?
Ja, klar. Die Leute denken, ich war gnadenlos. Aber ich habe die Manuskripte an alle geschickt, die in den Büchern vorkamen. Viele haben gesagt: Das kannst du nicht schreiben. Aber es ging ja um mich. Wenn man Fiktion schreibt, sollte es allerdings keine Tabus geben.
Sie sind auch Verleger und haben Christian Krachts Bücher in Norwegen herausgebracht. Tauschen Sie sich aus?
An unser erstes Gespräch erinnere ich mich gut. Er rief mich an und fragte: Seid ihr rechts? Und ich sagte: Nein. Und er meinte: Okay, ihr könnt meine Bücher haben. Cooler Typ, dachte ich. Damals gab es ja die Debatte um angeblich rechtes Gedankengut in seinem Werk. Er hatte keine Lust, dass sich das wiederholt.
Wo stehen Sie politisch?
Ich bin unglaublich liberal, wenn es um Meinungsfreiheit geht. In Sachen Wirtschaft bin ich ein Kind der Sozialdemokratie. Der Wohlfahrtsstaat ist eine grossartige Erfindung.
Welchen Betrag würden Sie darauf wetten, dass Sie irgendwann den Nobelpreis gewinnen?
Ich weiss, dass ich auf diesen Wettlisten stehe. Ich werde aber niemals den Nobelpreis gewinnen. Das ist sicher. Ich habe nicht, was die Akademie sucht. Man sollte konstant gut sein. Wie Peter Handke. Er hätte ihn längst bekommen sollen. Auch Cormac McCarthy. Thomas Bernhard hätte ihn auch verdient.
Jetzt wirken Sie unangenehm berührt.
Ich mag Ihre Frage nicht. Es wirkt, als würde ich eine solche Debatte akzeptieren. Wahrscheinlicher als ein Nobelpreis für mich ist ein Weltmeistertitel im Fussball für Norwegen.
Knausgård drückt die Zigarette aus. Die Sonne steht hoch, es ist fast Mittag. Um drei Uhr endet die Schule, dann holt er die Kinder ab. Er will jetzt schreiben, fünf Stunden lang, wie jeden Tag. Mittwochs läuft es meistens gut, das müsse man nutzen, meint er. Zum Abschied bittet er mich um einen Gefallen. Er hat zu Beginn unseres Gesprächs eine nette und belanglose Anekdote über ein Familienmitglied erzählt. Ich soll das bitte nicht erwähnen, sagt er. Natürlich nicht, verspreche ich. Es gibt also wieder Tabus – zumindest wenn es um seine neue Familie geht. Sein Gang federt, er stakst leicht nach vorn gebeugt hinein in die Londoner Suburbia. Bald hat ihn der Alltag verschlungen. ■